Neulich an der Kinokasse – vom Schlangestehen und Interpretieren
Sie kennen das: 20 Leute stehen brav an der Kasse und warten bis sie dran sind. Nummer 21 geht schnurstracks zur Kasse. Übliche Reaktionen folgen.
Was denkt der Typ? Denkt er überhaupt?
“Was war das jetzt wieder? Sieht der <Oups> nicht, dass wir alle hier anstehen? Drängelt der <Oups> sich doch einfach vor!”
Egal ob Kinokasse, beim Bäcker, auf der Behörde – immer wieder kochen die Gemüter hoch, wenn… ja, was jetzt genau? Was genau haben wir tatsächlich gesehen? Und was schließen wir daraus?
“Typisch Frau!!! Frauen können genetisch bedingt gar nicht wahrnehmen, wenn es irgendwo eine Schlange gibt!!” Diese Feststellung ist wissenschaftlich kaum haltbar, der Wahrheitsgehalt äußerst fragwürdig. Und dennoch neigen wir (in diesem Fall besonders männliche) Menschen dazu, äußerst präzise Urteile zu fällen, wenn etwas unseren Unmut erregt!
Definieren Sie “drängeln”!
Doch was genau haben wir gesehen? Was sehen wir, wenn wir “Drängeln!” denken? Wir sehen einen Zeitgenossen, wie er einen Fuß vor den anderen setzt und eine bestimmte Strecke zurücklegt.
“Ja, sieht die uns nicht?!?”
Ich fürchte, das können wir nicht beobachten. Mindestens zwei Szenarien sind denkbar: a) Der betreffende Mensch sieht uns tatsächlich nicht. Oder b) er sieht uns und entscheidet, seinen Weg fortzusetzen. Von außen sehen beide Szenarien ziemlich identisch aus. Und die Wortwahl “Drängeln” ist das Ergebnis unserer Interpretation!
Die Gewaltfreie Kommunikation fordert uns auf, zwischen Wahrnehmung und Interpretation zu unterscheiden!
Wozu das gut ist? Ganz einfach: Wenn Sie laut protestieren und rufen “Hey, Sie Drängler! Hinten anstellen!”, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Angesprochene anderer Meinung ist. So vielleicht: “Was ist denn Ihr Problem? Ich kann die Preiskategorien von da hinten nicht lesen und jetzt informiere ich mich, Sie <Oups>!!”
Wenn Sie dagegen einfach nur sagen: “Verzeihung, haben Sie die Schlange vor der Kinokasse gesehen, mit all den Leuten, die ebenfalls Kinokarten kaufen möchten?”- dann dürfte die Antwort vermutlich konstruktiver ausfallen. Entweder: “Oh, ich war in Gedanken versunken. Ich stelle mich natürlich hinten an!” oder “Ja, ich habe Sie gesehen. Ich will mich eben über die Preiskategorien erkundigen und stelle mich dann natürlich hinten an!”
Zum Schluss noch ein Tipp für Eltern:
Ihre Kinder werden deutlich weniger widersprechen, wenn Sie aufzählen, welche Gegenstände Sie wo im Kinderzimmer sehen können, statt pauschal festzustellen: “Du hast noch immer nicht aufgeräumt!”. Wieso das so ist? Die zitierte Äußerung ist eine Feststellung und gibt Ihre Gedanken zum Beobachteten wieder und nicht eine objektiv messbare Wahrheit. Sie sind anderer Meinung? Abwarten. Sobald Ihr Kind sagen kann “Die Ringelsocken von gestern habe ich in die Wäsche geworfen”, hat es sie widerlegt. Das Kind hat aufgeräumt!